Nächstenliebe ist nicht nur die Frage: Was soll ich persönlich tun? Nächstenliebe ist immer auch die Frage: Was können und sollen wir als Gemeinde und als Kirche tun? Dem gehe ich der heutigen Predigt nach.

Eine Zeitlang saß sonntags vor der Christus-Kirche in Beckum ein Bettler. Ich habe mit einzelnen Presbytern überlegt: Sollen wir ihm was geben? Vielleicht sogar in der Absicht, dass er geht. Oder sollen wir ihn wegschicken? Er saß vermutlich da, weil er dachte: Jemand, der aus der Kirche kommt, ist offen für Hilfe. Er hat vielleicht in der Predigt was über Nächstenliebe gehört. Und das betende Herz offen ist für Mitleid und Mitgefühl. Gebet heißt ja nicht: „Gott, mach mal bitte!“ Gebet bedeutet eigentlich: Mit offenen Augen das Leid der Welt ansehen und vor Gott bringen.

Das kleine Beispiel zeigt: Nächstenliebe ist einerseits eine persönliche Frage: Gebe ich etwas? Geben die Gottesdienstbesucher etwas? Es ist aber immer auch eine Frage an die Gemeinde: Was können, was sollen wir tun? Wenn wir als Gemeinde Lebensmittelgutscheine ausgeben, ist das keine persönliche Sache. Es ist eine Form, wie Gemeinde helfen kann.

Wir haben den Bettler damals nicht weggeschickt: Wer geben will, soll geben. Zugleich sind wir aber als Gemeinde aufgefordert, über Strukturen der Hilfe nachzudenken.

Jörg Zink hat mal sinngemäß gesagt: „Was Nächstenliebe heißt, das ist bestimmt durch das, was ein anderer von mir braucht.“ Dafür braucht es offene Augen und offene Herzen In christlichen Gemeinden hat sich schon früh eine Kultur des Helfens entwickelt, die über das persönliche Mitgefühl und private Mildtätigkeit hinaus ging. Damals tauchten Probleme auf, die nicht durch individuelles Handeln gelöst werden konnten. Die Antwort war eine Professionalisierung der Hilfe durch die Gemeinde.

In dieser Zeit wuchs die Gemeinde stetig. Eines Tages beschwerten sich die Zugezogenen. Sie warfen den Einheimischen vor, ihre Witwen bei der täglichen Speisung zu übergehen. Daraufhin beriefen die Zwölf eine Versammlung aller Jünger ein und sagten: »So geht das nicht! Wir können doch nicht die Verkündigung vernachlässigen, um selbst an den Tischen das Essen auszuteilen. Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer aus. Sie sollen einen guten Ruf haben und vom Geist Gottes und von Weisheit erfüllt sein. Ihnen werden wir diese Aufgabe übertragen. Wir dagegen werden uns ganz dem Gebet und der Verkündigung widmen.«

Der Vorschlag fand die Zustimmung der Versammlung. Sie wählten Stephanus, einen Mann mit festem Glauben und erfüllt vom Heiligen Geist. Außerdem Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus aus Antiochia, der früher zum jüdischen Glauben übergetreten war. Diese sieben ließ man vor die Apostel treten. Die beteten für sie und legten ihnen die Hände auf.

Das Wort Gottes breitete sich aus, und die Gemeinde in Jerusalem wuchs immer weiter. Sogar von den Priestern nahmen viele den Glauben an.

Apostelgeschichte 6,1-7 BasisBibel

Witwen und Waisen waren besonders hilfsbedürftig. Die Witwen der Zugezogenen erst recht, denn sie hatten keine Familie vor Ort. Die Urgemeinde hat nicht den einzelnen Gemeindegliedern ins Gewissen geredet: „Ihr müsst helfen!“ Sie hat in ihrer Gemeinschaft Hilfe aufgebaut. Sie hat eine Struktur geschaffen, in der Hilfe verantwortlich geleistet werden konnte.

Für mich gehört das zum Wesen der Kirche: Da ist auf der einen Seite, was man unter dem Stichwort „Gottesdienst zusammenfassen kann. Die Apostel reden von Gebet und Verkündigung. Ich denke, es geht um die ganze Breite des religiösen Lebens. Aber es gehört unbedingt auch die andere Seite dazu: Man kann es „Dienst am Menschen“ nennen. Das äußert sich zum Beispiel in konkreter Hilfe für Notleidende und Bedürftige. Johannes hat das mal auf den Punkt gebracht:“ Wer sagt: ‚Ich liebe Gott‘, lässt aber die Geschwister links liegen, ist ein Lügner.“ (1. Joh 4,20)

Die Lösung der Ur-Gemeide ist schon wegen der Zahl der eingesetzten Helfer ganz interessant: Sieben Diakone. Die Zahl ist – wie fast alle Zahlen in der Bibel – nicht zufällig: Die Zahl „Sieben“ steht für Vollständigkeit, aber auch für die Verbindung von Gott und Welt, Himmel und Erde. Denn nach der biblischen Zahllogik setzt die Sieben sich aus zwei anderen Symbolzahlen zusammen: Drei und Vier. Die Drei steht (nicht nur im Christentum) für Gott und das Göttliche, die „Vier“ für die Welt (vier Himmelsrichtungen).

„Wo Menschen sich vergessen, sich verschenken, sich verbünden, da berühren sich Himmel und Erde …“ heißt es in einem Lied. Gottesdienst und Dienst am Menschen sind aufeinander bezogen. Ohne diesen gegenseitigen Bezug fehlt entscheidendes.

Leider ist der Zusammenhang nicht immer erkennbar. In manchen Gemeindehäusern gibt es Büros und Beratungsstellen der Diakonie. Aber die Besucher wissen oft nicht, dass es sich bei der Diakonie um ein kirchliches Hilfswerk handelt.

Der Politikberater Erik Flügge, der auch ein engagierter Katholik ist, hat neulich in einer ZEIT-Kolumne darüber geklagt: „Die (kath.) Kirche wird nur von Insidern als einheitlich wahrgenommen.“ Eine Firma würde mit ihrem sozialen Engagement Werbung machen. Kirche macht das nicht. Sie nennt ihre soziale Seite „Caritas“. Aber darin erkennen nur wenige noch die kath. Kirche. Eigentlich müsste man überall ein Markenzeichen anbringen: Auch hier steckt Kirche drin.

Was Flügge für Caritas und die katholische Kirche beschreibt, gilt auch für die Evangelische Kirche und die Diakonie – und viele andere kirchliche Einrichtungen. Klar, das Diakonische Werk ist heute auch ein wichtiger Player auf dem Sozialmarkt. Da geht es um Konkurrenz, ums Geld verdienen, um Refinanzierung. Das sehen manche kritisch. Was nicht gesehen wird: Die meisten wichtigen Beratungsstellen arbeiten defizitär. Querfinanzierung und Kirchensteuermittel stellen diese wichtige und wertvolle Arbeit sicher. Als evangelischen Kirchen und Gemeinden täten wir gut daran, sichtbar zu machen, wo die Marke „Evangelische Kirche“ überall dahintersteht.

Gottesdienst und Dienst am Menschen lassen sich nicht trennen. Unsere „Speisung der Witwen und Waisen“ sieht heute anders aus, wobei Alleinerziehende nach wie vor zu denen gehören, die am stärksten Unterstützung brauchen. Aber das Feld der Hilfe ist weit. Kirchliche Hilfe sollte v.a. dort geschehen, wo andere, z.B. Staat nicht helfen.

Das geschieht durch unbürokratische Hilfe etwa durch Lebensmittelgutscheine. Oder dadurch, dass unsere Kirchengemeinde der Münster-Tafel das Gemeindehaus für eine Ausgabestelle zur Verfügung stellt.

Ein sehr umstrittener Bereich ist die Seenotrettung im Mittelmeer. Die Evangelische Kirche unterstützt dort die zivile Seenotrettung mit einem eigenen Boot. Ich finde es beschämend, dass die Politik in Europa über die Frage streitet, ob man in Seenot geratene Flüchtende retten soll oder nicht. Und ich bin stolz darauf, dass meine Kirche sich hier einbringt. Hier können nicht einzelne helfen. Das funktioniert nur in Strukturen der Hilfe, die in einen größeren Zusammenhang eingebettet sind.

Nächstenliebe ist bestimmt durch das, was andere Menschen von uns brauchen. Nächstenliebe ist die notwendige Rückseite von Gebet und Verkündigung. Wir verkünden nicht nur: Gott ist Liebe. In unserem Gebet loben und bitten wir Gott nicht nur. In der Gemeinde leben wir, was wir glauben: Gott ist bei den Menschen.

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