Bei einer Umfrage unter US-Amerikaner geben 58% an, Glaube sei wichtig in ihrem Leben (das sagen im Vergleich nur 25% der Deutschen). Allerdings konnten nur wenige zentrale Fragen zum christlichen Glauben beantworten. Viele halten auch bei uns die Zehn Gebote für zentral, aber bei der Umfrage konnten 2/3 nicht mal fünf Gebote nennen. Interessanterweise wussten Atheisten und Agnostiker oft besser über Glauben Bescheid als Evangelikale.

„Mit welchem Lebensziel kannst du glaubwürdig sein –
und in dem, was du tust, zieht ein Stück Himmel ein,
der über dich hinausgeht und weit in die Zukunft ragt,
sagt, wie wir denn handeln sollen, wenn dein Kind dich morgen fragt.“

Fritz Baltruweit, Wenn dein Kind dich morgen fragt

Wenn dein Kind dich morgen fragt, wie wir handeln sollen, geht es nicht darum die Zehn Gebote aufzusagen. Sie waren mal Grundregeln für den Hausvater. Heute kann ihre konsequente Umsetzung – und wie auch bei anderen Geboten der Bibel – durchaus problematisch sein. Ich glaube, es gibt eigentlich gar keine christliche Ethik. Nur gibt es andereseits auch keinen christlichen Glauben ohne Ethik. Es ist vertrackt.

Vielleicht haben Sie von dem Bremer Pfarrer Olaf Latzel gehört. Er ist ein sehr konservativer, bibeltreuer Kollege, der auf der Kanzel gegen den Islam und interreligiöse Gebete, geben Abtreibung, Scheidung und Homosexualität wettert und fordert, dass die Rechtsprechung in Deutschland sich mehr an der Bibel orientieren soll. Olaf Latzel hat grundsätzlich Recht: Was er fordert entspricht dem Wortlaut der Bibel. Allerdings haben mich Haltungen wie die seine zunehmend skeptisch gemacht. Ich habe mich lange Zeit mit christlicher Ethik und Moraltheorie befasst und bin letztlich zu dem Schluss gekommen: Eine verantwortungsvolle christliche Ethik ist eine allgemein gültige Ethik. Moralische Regel lassen sich nicht einfach aus dem biblischen Text für das hier und heute übernehmen.

Wenn dein Kind dich morgen fragt, welches Lebensziel dir sagt, wie wir handeln sollen – muss unsere Antwort verantwortlich sein. Was sind unsere Lebensziele? Und wie wirken sie sich auf unser Handeln aus?

Was heißt hier Lebensziel? In dem Lied von Fritz Baltruweit sagen uns Lebensträume, wofür wir leben. Lebensziele sind keine Lebensträume! Ziele dienen der Orientierung und Motivation. Lebensziele sagen, wie wir handeln sollen. Vielleicht kennen Sie von Unternehmen: Sie entwickeln Leitbilder, in den Visionen und Missionen formuliert werden. Die Vision formuliert das Ziel. Die Mission sagt, was man tun, will, um das Ziel zu erreichen. Ein Lebensziel ist der Horizont meines Lebens.

In einer bekannten Geschichte im Neuen Testament geht es um so ein umfassendes Lebensziel. Ein Mann fragt Jesus: Was muss ich für das ewige Leben tun? Die Fragen nach dem ewigen Leben spielt vor allem im Neuten Testamente eine wichtige Rolle und das ist ja ein Lebenshorizont. Allerdings meint „ewiges Leben“ nicht unbedingt „ewig weiterleben nach dem Tod“. Der griechische Ausdruck zoe aionios meint eher ein unbegrenztes, grenzenloses Leben. Ein Leben das „über dich hinausgeht und weit in die Zukunft ragt“. Ich übersetze für mich „ewiges Leben“ mit einem erfüllten, gelungenen, guten Leben.

Der Mann fragt Jesus also: „Was muss ich für erfülltes gutes Leben tun?“ Jesus fragt zurück: „Du kennst doch die Bibel. Was sagt die?“ Der Mann antwortet: „Die Bibel sagt: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Jesus entgegnet: „Dann kennst du ja die Antwort. Mach das, und du wirst leben.“

Man kann dieses Doppelgebot der Liebe als eine religiöse Fassung der sog. „Goldenen Regel“ verstehen, die es in vielen Kulturen und Religionen gibt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ Jesus formuliert das positiv und sagt: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut ihnen auch.“ So ein Grundsatz ist natürlich sehr allgemein. Entsprechend fragt der Mann zurück: „Was soll das denn konkret heißen? Wer ist denn mein Nächster?“ Jesus antwortet ihm mit einer seiner bekanntesten Geschichten: Ein Mann wird von Räubern überfallen und halb totgeschlagen. Ein Priester und ein Tempeldiener sehen den Verletzten, lassen ihn aber liegen. Erst ein Mann aus Samarien hilft ihm. Der Witz der Geschichte ist: Der verfeindete und verachtete Samariter hilft, während die Mitbürger und Volksgenossen vorbeigehen. Die Geschichte macht anschaulich, warum der Grundsatz „Liebe deinen Nächsten“ allgemein gültig ist: Er gilt zum einen über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg. Zum anderen ist der Nächste ist grenzenlos jeder Mitmensch.

An anderer Stelle wird Jesus mal nach dem wichtigsten Gebot gefragt und er antwort mit dem Doppelgebot der Lieben. Oft steht ja im Hintergrund die Frage: Lassen sich moralische Gebote (wie die Zehn Gebote) auf eine einfache Formel bringen? Die gesetzestreue Anwendung von Regeln führt ja oft – schon in der Bibel – in Widersprüche. Da steht dann z.B. das „Du sollst nicht töten“ der „Todesstrafe für Ehebruch“ gegenüber. Und es ist mehr als widersprüchlich, wenn heute in den USA Mitarbeiter in Klinken, die Abtreibungen vornehmen, ermordet werden oder weiße christliche Evangelikale sich mit Waffen protestierenden Schwarzen in den Weg stellen, und das mit einer biblischen Schöpfungsordnung begründen.

Aber es ist ein Missverständnis, wenn christlicher Glaube auf das Einhalten bestimmter moralischer Regeln reduziert wird. Das Doppelgebot der Liebe fasst nicht Gesetze und Gebote zusammen. Das Doppelgebot der Liebe bringt den Geist zum Ausdruck, der allen Regeln und Geboten zugrunde liegt. Christlicher Glaube ist Liebe. Und sein Grundsatz lautet: Liebe! Der Hebräerbrief sagt zum Beispiel: Liebt einander. Und er gibt dann Beispiele, wie sich diese Liebe äußern kann.

„Lasst nichts eure Liebe zueinander beeinträchtigen; durch Christus seid ihr ja Geschwister. Vergesst nicht, gastfrei zu sein. Durch ihre Gastfreundlichkeit haben einige, ohne es zu wissen, Engel bei sich aufgenommen. Denkt an die Gefangenen und nehmt an ihrem Schicksal Anteil, als wärt ihr selbst mit ihnen im Gefängnis. Habt Mitgefühl mit den Misshandelten, als wäre es euer Körper, dem die Schmerzen zugefügt werden.“

Hebräer 13,1-3 Neue Genfer Übersetzung

Der Kirchenvater Augustinus verzichtet sogar auf Beispiele und sagt: „Liebe – und dann tu was du willst“. Was ich bei Predigern wie Olaf Latzel vermisse, ist Liebe. Ich habe den Eindruck, seine strenge Gesetzlichkeit führt in den Hass – vielleicht sogar mehr noch bei seinen Fans als bei ihm selbst.

Diese Liebe ist sehr speziell. In der griechischen Sprache gibt es verschiedene Wörter für Liebe. Die Liebe, um die es hier geht, ist die „Agape“-Liebe. Eine Liebe, die nicht auf Sympathie und Anziehung beruht, sondern auf reiner Barmherzigkeit, auf Mitleid, Mitgefühl, Mitmenschlichkeit. Der Philosoph Wilhelm Kamlah hat die Grundhaltung mal so beschrieben: „Bedenke, dass der Andere genauso bedürftig ist wie du, und handle demgemäß!“ Weil wir bedürftig und verletzlich sind, sind wir auf Liebe angewiesen.

Ich habe gesagt: Es gibt keine christliche Ethik und Moral, aber auch keinen christlichen Glauben ohne Ethik und Moral. Viele biblische Gebote und Regeln lassen sich nicht mehr rechtfertigen. Dazu gehört meines Erachtens die Todesstrafe, das Scheidungsverbot, die Verurteilung von Homosexualität, die Unterordnung von Frauen und anderes mehr. Ja, diese Gebote stehen in der Bibel. Aber das bedeutet nicht, dass sie deshalb gültig sind. Sie mögen es einmal gewesen sein. Vielleicht mag es sogar einmal gute Gründe dafür gegeben haben. Aber moralische Gebote und Regel müssen sich immer neu und unabhängig von Religion und Kultur begründen lassen.

Trotzdem glaube ich, dass wir Christen uns an dem orientieren sollten, was heute ethisch und moralisch geboten ist. Maßstab ist die mitfühlende, barmherzige Liebe. Daran hängt auch unsere Glaubwürdigkeit. „Wer sagt ‚Ich liebe Gott‘ und lässt Geschwister links liegen, der ist ein Lügner“, schreibt Johannes einmal (1.Joh 4,20). Liebe ist Lebensziel und Grundsatz in einem: Liebe Gott und deinen Nächsten – und dann tu was du willst.

[ Zum ersten Teil der Predigtreihe]

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