Am Montag habe ich die Leserinnen und Leser dieses Blogs dazu eingeladen, mir ihre Gedanken zum Predigttext für heute zu schicken. Die Resonsanz war übersichtlich, aber gehaltvoll und lief v.a. über E-Mail. Angeregt von den Mails hat sich ein Predigt-Gedankengang für die heutige Predigt entwickelt, der hier nachzulesen ist.

In der Wittenberger Stadtkirche steht der sog. Reformationsaltar. Seine Mitteltafel zeigt das letzte Abendmahl: Jesus in trauter Runde – alles sieht harmonisch aus. Nur einer stört die Eintracht: Judas. Er sitzt neben Jesus. Uns wendet er den Rücken zu. Alles an ihm signalisiert: „Nimm dich in acht!“ Die gelb-orange Kleidung, die Neid und Niedertracht symbolisiert, und die rötlichen Haare – in der damaligen Kunst ein Hinweis, dass jemand mit dem Teufel im Bunde steht. Wir sehen den prachtvollen, prallen Geldbeutel, den Judas mit der linken Hand fest umklammert. Der Beutel ist nicht nur Hinweis auf das Geld für den Verrat. Judas war der Kassenwart der Gruppe um Jesus, und angeblich hat er Geld aus Kasse veruntreut. Der Mann mit dem Geldbeutel ist ein Stachel im Fleisch der Eintracht. Wir wissen, dass die Sache nicht gut ausgeht: Jesus wird getötet, Judas tötet sich selbst.

Nach dem Tod von Judas wählen die Jünger Matthias als Nachfolger. Kurz darauf erfüllt der Heilige Geist die Jüngerschar und sie wagen sich in die Öffentlichkeit. Die Gemeinde wächst und es herrscht wieder Eintracht. So jedenfalls schildert es Lukas:

„Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele. Keiner betrachtete etwas von seinem Besitz als sein persönliches Eigentum. Sondern alles, was sie hatten, gehörte ihnen gemeinsam. Mit großer Kraft traten die Apostel als Zeugen dafür auf, dass Jesus, der Herr, auferstanden war. Die ganze Gnade Gottes ruhte auf der Gemeinde. Keiner von ihnen musste Not leiden. Wer Grundstücke oder Gebäude besaß, verkaufte diese und stellte den Erlös zur Verfügung. Er legte das Geld den Aposteln zu Füßen. Davon erhielt jeder Bedürftige so viel, wie er brauchte.  So machte es auch Josef, ein Levit, der aus Zypern stammte. Die Apostel nannten ihn Barnabas, das bedeutet »der Tröster«. Josef verkaufte einen Acker, der ihm gehörte. Den Erlös stellte er der Gemeinde zur Verfügung und legte ihn den Aposteln zu Füßen.“

Apostelgeschichte 4,32-37 BasisBibel

Lukas malt ebenfalls ein Gemälde: Das Bild einer idealen Gemeinde, eine Solidargemeinschaft, in der alle genug zum Leben haben. Es ist keine reiche Gemeinde, aber es ist genug für alle da. Wir können dieses Bild nicht ansehen, aber es hängt gewissermaßen in unseren Köpfen.

Wahrscheinlich sieht jeder von uns das Gemälde, das Lukas malt, mit Sympathie an: Ein tolles Gemeindebild. Aber die Wand, an der das Bild hängt, hat einen hässlichen Riss. Dahinter kommt die Wirklichkeit zum Vorschein. Beate Herbers hat als Presbyteriumsvorsitzende im aktuellen Gemeindebrief über die finanziellen Sorgen der Gemeinde geschrieben. Hervorgerufen wird der Engpass unter anderem durch die sog. Doppik (Doppelte Buchführung in Konten/Kommunen/Kirchen). In einer Mail zur Predigtvorbereitung fragt Hans Dieter Weber: Ist das nicht ein hausgemachtes Problem durch die Kirchenleitung? Die Gemeinden haben nicht unbedingt weniger Geld, aber weniger Geld zur Verfügung. Dadurch steigen u.a. auch Konflikte zwischen Gemeinden. Plötzlich taucht die Frage auf: Wie viel Solidarität kann man sich noch leisten? Es bringt nichts, den Riss zuzuspachteln und das schöne Bild drüber zu hängen. Wie das so ist mit Rissen: Die kommen immer wieder.

Das Gemeindebild von Lukas hängt wie ein altes Gemälde in unseren Kirchen, Gemeindehäusern und Köpfen – dabei war es von Anfang an kein Abbild der Wirklichkeit. Wir schauen auf das Bild und denken: „Damals war die Welt noch in Ordnung! Heute geht alles den Bach runter.“ Die einfachste Lösung wäre, an die Solidarität und das christliche Miteinander zu appellieren – oder mit schwarzer Pädagogik zu kommen und zu drohen. Gleich neben das strahlende Gemälde von der idealen Ur-Gemeinde hängt Lukas ein düsteres Bild: Es zeigt das Ehepaar Hananias und Saphira, die Petrus über ihre wahren Finanzverhältnisse belügen– und daraufhin tot umfallen. Allerdings zeigt die Erfahrung: moralische Appelle und Drohung funktionieren nicht oder zumindest nicht langfristig. Lukas malt ein Bild von einer idealen Gemeinde. Er zeigt uns nicht, wie es war. Lukas zeigt uns, wie es seiner Meinung nach sein sollte: Die, die etwas haben, teilen mit denen, die etwas brauchen. Es ist genug für alle da – wenn wir gerecht teilen.

Dieser Idee stimmen wahrscheinlich die meisten von uns zu. Das Problem ist nur: Wie stellt man fest, wer was braucht? Und ob er oder sie das wirklich braucht? Frank Altrock macht ebenfalls in einer Mail zum Predigttext einen guten Vorschlag. Wenn Mittel knapp werden, kommt es schnell zu Streit. Altrock schlägt vor, solchen Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sondern Konflikte als Lehrer zu verstehen, durch die wir etwas lernen können. Wir können zum Beispiel lernen unsere Bedürfnisse klar und deutlich zu formulieren und wir können aus dem – guten und fairen – Widerstreit der Meinungen zu einer neuen Sicht zu kommen. Leider gibt es kein Messgerät für Bedürfnisse. Was jemand braucht, lässt sich nicht objektiv feststellen. Aber jeder von uns kann sagen, was er/sie braucht. Wenn wir miteinander reden und ringen, erkennen wir am Ende, was gut ist für alle – das ist zumindest meine Hoffnung.

„Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele.“ – Klar, wir haben das Idealbild vor Augen – und irgendwie passt da kein Streit und kein Konflikt rein – aber der Riss an der Wand hinter dem Bild ist nun mal da. Vielleicht sollten wir das Bild anders ansehen: Nicht als Darstellung einer tollen Vergangenheit, die es nie gab, sondern als Vision einer guten Zukunft, die es geben könnte. Uwe Pelchen erinnert dazu in seiner Mail, dass diese Zukunft eine Aufgabe der ganzen Gemeinde ist – nicht nur z.B. des Presbyteriums. Worauf ist man bereit als Gemeinde zu verzichten? Welche Aufgaben können ehrenamtlich übernommen werden? Aber auch: Welche Dinge brauchen wir so sehr, dass wir dafür auch Geld einsetzen sollten? Gute Fragen, die Herr Pelchen stellt. Ja, das sind die Dinge, die wir klären müssen: innerhalb der Friedenskirchengemeinde z.B., und mit Nachbargemeinden im Kirchenkreis. Wir werden dabei nicht von vorneherein alle einer Meinung sein. Im Gegenteil: Wir werden ringen und streiten. Aber mit einer guten Vision vor Augen sehen wir auch, wie guter und fairer Widerstreit geht – indem wir nämlich jetzt schon so handeln, wie wir werden wollen: als ein Herz und eine Seele.