Vor ein paar Jahren habe ich eine russlanddeutsche Frau zum Geburtstag besucht. Sie wohnte bei Tochter. Wir saßen im Wohnzimmer. Die Frau hatte ein altes, evangelisches Gesangbuch. Es gehörte schon den Eltern und war für sie ein wichtiger Schatz. In Erinnerung geblieben ist mir der Besuch aber deshalb, weil in dem Wohnzimmer einfache Kopien russischer Ikonen hingen und ein gerahmtes Bild von Papst Johannes Paul II. (obwohl die ganze Familie evangelisch war). Auf der Fensterbank stand ein kleiner Zen-Garten und eine Buddha-Figur, wie es sie oft in Einrichtungshäusern gibt.

Das Wohnzimmer könnte als Beispiel dafür dienen, dass heutzutage jeder sich seinen eigenen Glauben bastelt. Manche sprechen despektierlich vom „religiösen Gemischtwarenladen“ und von Patchworkreligion. Dabei gibt es religiöse Vermischung nicht erst in der Moderne. Alle Kulturen und Religionen sind davon geprägt. In Asien gibt es zum Beispiel eine Verbindung von Christentum und Ahnenkult. Westliche Theologen kritisieren das, aber zum Beispiel koreanische Theologen antworten: Ihr macht es doch nicht anders! Dazu muss man nicht auf Tannenbaum und Ostereier verweisen. Im europäischen Christentum mischen sich jüdische, griechische, römische und andere Traditionen:

  • Weihnachten feiern wir zur Wintersonnenwende
  • die im Alten Testament kritisierte Verehrung der Himmelskönigin und der Großen Mutter findet sich schon früh wieder in der Verehrung der Maria als „Gottesgebährerin“
  • die Idee der Dreieinigkeit, die für viele Religionswissenschaftler das das wesentliche Merkmal christlichen Glaubens darstellt, entspringt griechischem Denken und widerspricht jüdischem – in der Bibel findet sich davon nichts.

Glaube ist immer im Wandel. Was bedeutet das für den christlichen Glauben hier und heute?

Für meine Verständnis von christlichem Glauben ist ein Satz von Paulus prägend: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1). Die Freiheit des Glaubens steht in einem Spannungsverhältnis zur Bindung an biblische und kirchliche Tradition. Eine Erklärung für das Wort „Religion“ lautet, dass es auf relegere zurückgeht, was u.a. „zurückgebunden sein“ bedeutet. Christlicher Glaube steht immer in der Spannung von Freiheit und Rückbindung.

Diese Spannung macht ein Text aus dem Alten Testament für mich in problematischer Weise deutlich. Da wird das Volk Israel als befreites Volk angesprochen, das Anteil hat an Gottes Heiligkeit. Die Kirche sieht sich in diesem Text mitgemeint. Das Problem ist, dass die Erinnerung an die befreiende Kraft Gottes verbunden wird mit tödlicher Drohung an Abweichler, Nicht- und Anders-Gläubige:

Ihr seid ein heiliges Volk – ihr gehört ganz dem HERRN, eurem Gott. Er hat euch aus allen Völkern der Welt zu seinem Eigentum erwählt. Das hat er nicht etwa getan, weil ihr zahlreicher wärt als die anderen Völker. Denn ihr seid ja das kleinste von allen Völkern. Nein, aus Liebe hat er sich euch zugewandt und weil er das Versprechen halten wollte, das er euren Vorfahren gegeben hat. Darum hat er euch mit starker Hand aus der Sklaverei in Ägypten herausgeholt, er hat euch aus der Gewalt des Pharaos, des Königs von Ägypten, erlöst. So erkennt doch: Der HERR, euer Gott, ist der wahre und treue Gott!
Über Tausende von Generationen steht er zu seinem Bund und erweist allen seine Güte, die ihn lieben und sich an seine Gebote halten. Die ihn aber verachten, bestraft er mit dem Tod. Er zögert nicht, sondern gibt ihnen gleich, was sie verdienen. Darum lebt nach den Weisungen, Ordnungen und Geboten, die ich euch heute gebe! Wenn ihr sie befolgt, wird auch der HERR sich an seinen Bund mit euch halten. Ihr werdet weiter seine Güte erfahren, wie er es euren Vorfahren zugesagt hat.

Deuteronomium 7,6-12 Hoffnung-für-Alle-Bibel

Besonders erschreckend ist der Kontext, in dem der Abschnitt steht und der vor der Vernichtung der umliegenden Völker handelt. Der Text entstand, als das Königreich Israel schon zerfallen war. Das Restreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem versuchte sich gegen den Zerfall zu stemmen, indem es sich auf ein Zentrum ausrichtete. Alles Abseitige wurde verworfen. Dabei war die Idee des einen Zentrums war von Anfang an eine Illusion: Glaube ist immer im Wandel. Ich lese den Text daher gegen den Strich. Wir sind zurückgebunden an die biblische und kirchliche Tradition, die uns sagt: „wir sind erlöst und befreit“. Christlicher Glaube ist für mich ein Ort der Freiheit, aber zurückgebunden an Sprache, Bilder und Symbole, die uns die Botschaft von Erlösung und Befreiung erst vermitteln.

Für mich drückt die Freiheit des Glaubens sich gut aus im Bild vom „Haus des Glaubens“. Wir sind gerade nebenan ins Pfarrhaus eingezogen. Es wurde ursprünglich nicht als Pfarrhaus gebaut. Pfarrer Drews hatte dort privat gewohnt. Im Lauf der Zeit ist es umgebaut und erweitert worden. Manches alt, manches modernisiert, manches marode. Es wäre doch eine absurde Vorstellung, wenn man am Haus und an der Einrichtung nichts verändern dürfte und wenn alles immer so bleiben müsste wie seinerzeit bei Pfr. Drews.

Mit „Haus des Glaubens“ ist es ähnlich: Mit der Taufe ziehen wir ein ins Glaubenshaus. Wir entdecken: Manches ist großartig, manches aber auch merkwürdig. Manches lässt sich nur aus der Geschichte erklären. Nach und nach richten wird uns im Glaubenshaus ein und bringen dazu unsere eigene Lebensgeschichte mit. Es ist geradezu eine Voraussetzung für das Glaubenkönnen, dass Glaube sich wandelt. Das Haus des Glaubens hat zwar eine bestimmte Gestalt, aber ich gestalte die Räume des Glaubens selbst mit.

Was ich mitnehme ins Haus des Glaubens, ist das, was mir wichtig und unverzichtbar ist – und was zugleich eine Sehnsucht wachhält. Das biblische Verständnis von Glauben konzentriert sich darauf, Glauben als festes Vertrauen und feste Zuversicht zu verstehen. Wenn mir jemand was erzählt, und ich glaube ihm – damit fängt Glauben an. Und Dinge, die ich fest glaube, sind die Dinge, die mich berühren, die etwas in mir in Schwingung bringen.

Ich finde es interessant, dass das deutsche Wort „Glaube“ sprachgeschichtlich verwandt ist mit loben und lieben. Man sieht das an verwandten Sprachen, wenn „glauben“ im niederländischen „geloven“ heißt und Liebe im englischen „love“. Das alte Gesangbuch der russlanddeutschen Frau steht für diese Liebe und große Wertschätzung. Die Lieder und Texte, sie sich auswendig kann, berühren sie. Und sie drücken eine Sehnsucht aus, vielleicht nach einer Situation der Vergangenheit, vielleicht nach etwas, das in der Zukunft liegt.

Was ich mitnehme ins Haus des Glaubens, das sind nicht bloß irgendwelche Gegenstände. Es sind Symbol für etwas, woran mein Herz hängt und wonach ich mich in der tiefsten Tiefe sehne. Es ist vielleicht ganz Ende Ausdruck der Sehnsucht nach dem großen Ganzen, das ich „Gott“ nenne.

Allerdings hat das Haus des Glaubens eine Tücke: Ich wohne da nicht ganz alleine. Im Haus des Glaubens wohnt quasi eine heilige Wohngemeinschaft. Ich erinnere mich noch an das Wohnen in der WG zu Studiumszeiten. Die Spannungen die es gab, die unterschiedlichen Denk- und Lebensweise – vor allem aber die nächtlichen Diskussionen am WG-Küchentisch. Leidenschaftliche Gespräche über alles, was uns bewegt hat: Politik, Religion, Moral, Musik … Für mich ist ein wichtiges Element des christlichen Glaubens, dass wir „Mitbewohner“ miteinander im Gespräch sind.

OK, und worüber reden wir so? Über die Frage, was Dreieinigkeit bedeutet? Über die Frage, ob ich eine Buddha-Statue aufstellen darf? Der Theologe Paul Tillich hat den Bereich der Religion beschrieben als das, was uns „unmittelbar angeht“. Ich glaube, darum drehen sich unserer Gespräche. Wenn Fragen des Glaubens mich nicht berühren, ist Glaube tot. Glaube ist lebendig, wenn er zu tun hat mit dem, was uns unbedingt angeht – und wenn wir darüber leidenschaftlich reden in unserer heiligen Wohngemeinschaft

Wir können glauben, wenn die Häuser des Glaubens bewohnbar sind. Sie kennen diese Hochglanz-Prospekte, die oft Zeitungen beiliegen oder Einrichtungs-Magazine wie „Schöner wohnen“. Ich frage mich immer: Wer will in solchen Wohnungen leben? Die Fotos zeigen Räume, in denen niemand zu wohnen scheint. „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“, was Glauben heißt, dann zeig ihm kein Hochglanz-Prospekt des Glaubens. Zeig ihm, wie dein Haus des Glaubens eingerichtet ist. Zeig, was dir lieb und wertvoll ist. Zeig, wonach du dich sehnst. Und sprich mit Leidenschaft von dem, was dich „unbedingt angeht“.

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