Es ist Buß- und Bettag und wir feiern Gottesdienst. Das ist in diesem Jahr nicht selbstverständlich. Vielen regelmäßigen Gottesdienstbesuchern liegt viel an der gemeinsamen Feier in der Kirche – aus unterschiedlichen Gründen. Die einen singen gerne (und finden es schade, dass gerade das im Moment nicht geht). Anderen gefallen feierliche gottesdienstliche Formen und Rituale (und vermissen im Moment das Abendmahl). Wieder andere genießen einfach einen Augenblick der Stille und Besinnung. Mir fallen Gottesdienste ein, die ich im Ausland besucht habe: Ich habe kaum ein Wort ein verstanden, und trotzdem die Atmosphäre genossen. Gottesdienst feiern und miteinander singen und beten – für manche ist das Zentrum von Kirche und Gemeinde.

Gottesdienst vom Buß- und Bettag 2020

Für andere ist Gottesdienst dagegen eine merkwürdige Veranstaltung. Man hört alte Texte, singt (wenn nicht grade Pandemie ist) alte Lieder, und spricht gemeinsame Gebete. Nicht jeder hat dazu einen Draht. Vor Jahren habe ich in einem Seniorenheim regelmäßig Gottesdienste gefeiert. Die Pflegerinnen brachten die Bewohner in den Raum und dann gingen. Sie nutzten die Zeit, in der ich zum Gottesdienst da war, um was anderes oder eine Pause zu machen. Einmal nach dem Gottesdienst kam eine der Pflegerinnen in den Raum und sagte: “Na, haben sie schön gebetet?” Für mich war das im ersten Augenblick irritierend: Es klang ein bisschen wie „Haben sie schön geschlafen?“ – aber es war nicht böse gemeint. Der Pflegerin war das Geschehen im Gottesdienst irgendwie fremd. Eine merkwürdige Veranstaltung.

Aber was, wenn Gott sagen würde: Eure merkwürdigen Gottesdienste interessieren mich nicht. Eure Gebete höre ich nicht? Das ist jedenfalls die harte Botschaft von Jesaja an seine Zeitgenossen. Sie kommen an hohen Festtagen mit Opfertieren zu feierlichen Gottesdiensten zusammen. Aber Gott sagt: Ich will das nicht. Ich will eure Gottesdienste nicht. Eure Gebete höre ich nicht.

Gott sagt: Hört endlich mit diesen nutzlosen Opfern auf! Ich kann euren Weihrauch nicht mehr riechen. Ihr kommt zu den Gottesdiensten und den jährlichen Festen zusammen, aber ich verabscheue sie. Sie sind mir eine Last, ja, sie sind für mich unerträglich geworden! Streckt nur eure Hände zum Himmel, wenn ihr betet! Ich halte mir die Augen zu. Betet, so viel ihr wollt! Ich werde nicht zuhören, denn an euren Händen klebt Blut. Wascht euch, reinigt euch von aller Bosheit! Lasst eure Gräueltaten, hört auf mit dem Unrecht! Lernt wieder, Gutes zu tun! Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, tretet den Gewalttätern entgegen und verhelft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht!« So spricht der Herr: »Kommt, wir wollen miteinander verhandeln, wer von uns im Recht ist, ihr oder ich. Selbst wenn eure Sünden blutrot sind, sollt ihr doch schneeweiß werden. Sind sie so rot wie Purpur, will ich euch doch reinwaschen wie weiße Wolle.

Aus Jesaja 1

Gebet und Unrecht verträgt sich nicht. Wer bei Gebet an reine Innerlichkeit denkt, der liegt falsch. Es geht immer auch um das, was gut ist zu tun: Wir beten uns und der Welt ins Gewissen. Buß- und Bettage waren ursprünglich nicht an ein bestimmtes Datum gebunden. Sie wurden in Krisen und Notzeiten ausgerufen. Ich glaube: Das erleben wir gerade – und ich meine nicht die Pandemie. Ich denke eher an gesellschaftliche Spaltung und den Verlust an Gemeinsinn. Einen Sinn für das Gemeinsame und Verbindende brauchen wir aber, um den vielen Krisen und Nöten der Gegenwart zu begegnen: Klimawandel, Extremismus und Fanatismus, Hunger und Kriege. Gottesdienst und Gebet darf die Wirklichkeit nicht ausblenden.

Gottesdienste sollen mehr sein als erbauliche Lieder, feierliche Rituale und schöne Gebete. Wenn Gottesdienste nicht verbunden sind mit gesellschaftlichem Handeln und Einsatz für Andere, dann ist der Gottesdienst ein bisschen wie ein Rad im Leerlauf: Es dreht sich eine Zeitlang schön, aber irgendwann geht es nicht mehr voran. Gottesdienst soll eben nicht nur eine Stunde lang in der Kirche stattfinden. Eigentlich ist Gottesdienst ein umfassendes Lebensprojekt.

Früher hätte man dieses Lebensprojekt „Frömmigkeit“ genannt. Das Wort ist etwas in Verruf geraten. Für viele klingt Frömmigkeit heute nach Frömmelei und Heuchelei: Fromme Lieder singen, und trotzdem mies und fies sein. Statt von Frömmigkeit reden wir heute lieber von Spiritualität – ein Wort, dass ich, ehrlich gesagt, auch lieber gebrauche. Dabei ist Frömmigkeit eigentlich ein gutes Wort. „Frömmigkeit“ bedeutet eigentlich nämlich soviel wie „Rechtschaffenheit“. Recht schaffen: „Lernt wieder, Gutes zu tun! Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, tretet den Gewalttätern entgegen und verhelft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht!“ Während Spiritualität mehr die Innerlichkeit betont, steckt in „Frömmigkeit“ auch die Tat.

Gottesdienst als frommes Lebensprojekt verbindet das Gebet mit der Tat. Es gibt die Geschichte von dem Rabbi, der nicht zum Bethaus kam. Die Gemeinde fing ohne ihn mit dem Gebet an. Als sie fertig waren, kam der Rabbi doch noch. Die Leute fragten natürlich nach. Die Rabbi erzählte: Er war auf dem Weg zu Bethaus, als er ein Baby weinen hörte. Die Mutter war ins Bethaus gegangen, das Baby war aufgewacht und schrie. Der Rabbi blieb beim Kind, bis es schlief und ging dann ins Bethaus. Gebet und Tat hängen zusammen.

Wahrer Gottesdienst und wahres Gebet heißt: offene Augen und Ohren haben. Sehen, was zu tun ist. Die Not hören wie ein schreiendes Baby, das unsere Zuwendung und unseren Trost braucht. Im Gottesdienst bringen wir all das ins Gebet. Das ist unserer Aufgabe im Gottesdienst: Uns und der Welt ins Gewissen beten.

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